Wie aus „Betroffenen“ Expert:innen werden

Im Konrad-Martin-Haus in Bad Kösen bildet Gisela Winkler Menschen mit Behinderung zu kulturellen Botschafter:innen aus. Dabei bringen sie ihre Expertise im Bereich Barrierefreiheit ein – und meistens eine neue Perspektive.

Der Naumburger Dom ist UNESCO-Welterbe und Touristenmagnet im Saale-Unstrut-Tal in Sachsen-Anhalt. Ein imposanter Bau aus dem 13. Jahrhundert, errichtet aus gotischen und romanischen Elementen, eine Kirche, über deren Geschichte es viel zu erfahren gibt – neuerdings auch barrierearm: Besucher:innen können sich über kunsthistorische Details bei einer Führung in leichter Sprache informieren.
Entwickelt haben die Führung anerkannte Teilhabeberater:innen des Landkreises Naumburg, ausgebildet am Konrad-Martin-Haus in Bad Kösen. Die zwölf Expert:innen, allesamt Menschen mit Behinderungen, beraten regionale Einrichtungen und Institutionen aus Kultur und Sport.

Eine Gruppe junger Menschen in blauen und weinroten T-Shirts stehen in einem Gebäude, das gotisch anmutet.
© Rüdiger Prang
Eine Frau mit kurzen grauen Haaren blickt in die Kamera. Sie hält einen lila Wimpel in der Hand, auf dem zu lesen ist: Stabil in der Fläche. Danke dir!
Foto:Stiftung Bürgermut

Die Idee dazu hatte Gisela Winkler, Pädagogin am Konrad-Martin-Haus. „Das war ein langer Prozess. Zunächst mussten wir den Menschen mit Behinderungen Mut machen, Kultur zu entdecken, dann mussten wir unsere Partner:innen überzeugen und bürokratische Hürden zu überwinden“, erzählt die 62-Jährige. Dass das Recht auf Bildungsurlaub, das viele Bundesländer Arbeitnehmenden einräumen, auch für Angestellte in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen gilt, sei zum Beispiel nicht allen Beteiligten klar gewesen. Erwachsenenbildung sei oft nicht inklusiv gedacht, kritisiert die Pädagogin. Zudem würden Menschen mit Behinderungen häufig von Anfang an in parallelen Strukturen ausgebildet, sodass sie gar keine Neugier auf kulturelle Erlebnisse entwickeln könnten. 

Barrieren abbauen, außen und innen

In der Heimvolkshochschule in Bad Kösen ist das anders: Das Konrad-Martin-Haus, eine eigenständige Bildungseinrichtung innerhalb der Caritas, blickt auf eine lange inklusive Tradition zurück. In den Nachkriegsjahren als Ferienheim für Familien mit Angehörigen mit Behinderungen genutzt, ist es heute ein Lernort für inklusive Erwachsenenbildung. Seit 2014 entwickelt Gisela Winkler dort im Bereich Grundbildung und Inklusion Veranstaltungen und Fortbildungen zu gesellschaftlicher Teilhabe. Darunter sind Formate wie die Teilhabeberatung, kulturelle Bildungsreisen oder die Schulung der Lesepat:innen aus dem Landkreis. 

Neben bürokratischen Hürden begegnen ihr dabei auch ganz andere Barrieren: Mit einer inklusiven Reisegruppe reiste sie nach Salzburg, um eine Checkliste für Barrierefreiheit in Kultureinrichtungen zu erstellen. Das Ergebnis: Viele Einrichtungen bieten bereits vielfältige Zugänge zu Kultur. Aber oft sind die Wege dorthin sehr beschwerlich. Das fängt schon bei der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel an, wenn Mitfahrende sichtlich genervt sind, weil das Ein- und Aussteigen etwas länger dauert als geplant.

Barrieren im Kopf werden auch im Konrad-Martin-Haus sichtbar, das von sehr unterschiedlichen Gruppen und manchmal zur selben Zeit besucht wird. Es begegnen sich im Frühstücksraum beispielsweise Professor:innen, Beschäftigte aus Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und Frauen mit Migrationsgeschichte, die unterschiedliche Angebote wahrnehmen. Für alle eine gute Gelegenheit, Vorurteile zu reflektieren und die eigene Offenheit für Vielfalt zu testen – so wie es das Selbstverständnis der katholischen Einrichtung vorsieht. 

Regional verankert, international wirksam

Das Konrad-Martin-Haus wirkt weit über die Grenzen von Bad Kösen hinaus. Zwar fehlt es dem ausgezeichneten „Ort der Vielfalt“ an Mitteln für große Modellprojekte, aber mit Kreativität, Eigeninitiative und Kooperationen gelingt es dem 14-köpfigen Team, nachhaltige Bildungsangebote zu schaffen. „Indem wir Dinge einfach machen, verändern wir die Strukturen des Systems jedes Mal ein bisschen und wirken in die Umgebung hinein“, sagt Gisela Winkler. Diese Umgebung reicht vom direkten Umland bis weit in die Region hinein: Der Wirkungskreis umfasst den Burgenlandkreis sowie angrenzende Gebiete in Sachsen und Thüringen. Das Haus ist in zahlreiche Netzwerke eingebunden – darunter das Inklusionsnetzwerk, die lokale Allianz für Menschen mit Demenz, das Integrationsnetzwerk sowie das Programm „Demokratie leben!“, dessen Fach-und Koordinierungsstelle ebenfalls im Haus angesiedelt ist. Auch die Zusammenarbeit mit der kommunalen Verwaltung ist eng.

Foto:Nicky Hellfritzsch, www.freshshots.de
Mehrere Menschen mit und ohne sichtbare Behinderung haben sich zum Gruppenbild aufgestellt. Dahinter ein Banner, auf dem steht: Salzburg einzigartig.
Foto: Gisela Winkler

Darüber hinaus baut Gisela Winkler Brücken nach Europa. Im Rahmen des Erasmus+-Programms organisiert sie Bildungsreisen für Menschen mit geringen Bildungschancen und holt Gruppen aus dem europäischen Ausland nach Bad Kösen. Von dem Austausch profitieren nicht nur die Teilnehmenden – er wirkt in die ländliche Region hinein. Wenn plötzlich 20 Ir:innen oder Litauer:innen in der örtlichen Buslinie sitzen, wird Europa vor Ort sichtbar und erlebbar. Der Besuch aus Litauen kam auch, um sich über das Lesepat:innen-Programm zu informieren – eine Initiative, bei der Ehrenamtliche Grundschulkinder unterstützen. Die Pat:innen werden im Konrad-Martin-Haus geschult, der Landkreis koordiniert die Zusammenarbeit mit den Schulen. Inzwischen gibt es in der Region mehr Grundschulen mit Lesepat:innen als ohne – ein Beispiel für eine gelungene Kooperation zwischen Zivilgesellschaft, Verwaltung und den Bildungseinrichtungen. 

Leben inmitten von Leben

Neben der Arbeit im Konrad-Martin-Haus singt Gisela Winkler im Naumburger Domchor, hat den Förderverein der Stadtbibliothek Naumburg mitgegründet und unterstützt aktiv den Lesekreis der Bibliothek. Ihre Motivation beschreibt Gisela Winkler mit einem Zitat von Albert Schweitzer: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das leben will.“

Zu ihrem 60. Geburtstag machte sie sich ein besonderes Geschenk: Seitdem arbeitet sie nur noch mit konstruktiv gestimmten Menschen zusammen. Diese Haltung ist ihr Weg, sich abzugrenzen und ihre Energie für diejenigen aufzubewahren, die sie aufnehmen wollen. Meditation und Waldspaziergänge geben ihr zusätzlich Kraft: „Es ist mühsam, die Welt vielfältig und offenzuhalten, wenn viele um einen herum sie sehr eng und klein definieren“, sagt Gisela Winkler.  

Den Sommer nutzt die engagierte Pädagogin, um weitere Ideen und Projekte zu planen. Bei all ihren Angeboten denkt sie Vielfalt stets mit. Denn auch unter marginalisierten Gruppen gibt es Ausgrenzung. „Was kann ich dazu beitragen, dass die Gesellschaft lebenswerter für uns alle wird?“ – diese Frage habe sie auf all ihren Stationen begleitet. 

Winkler ist in Südafrika geboren und aufgewachsen, hat dort sowie im Irak und in England gearbeitet – immer im Bereich Bildung und Teilhabe. Ein Glück für den Landkreis Naumburg, dass ihre Wanderlust Gisela Winkler noch nicht weitergetrieben hat. Denn ob im Dom, im Seminarraum oder im Bus: Gisela Winkler ermöglicht vielen Menschen ein Leben und Erleben in Gemeinschaft. Dafür wurde sie beim Zukunftsforum Ländliche Entwicklung 2025 in Berlin ausgezeichnet. 

Text: Imke Borchers

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