querstadtein: Wohnungs- und Obdachlosigkeit auf der Spur

Der Berliner Verein querstadtein gibt mit seinen Stadtführungen Menschen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden. Auf Tour mit Susanne entlang des Kurfürstendamms.

Das Foto zeigt eine Ecke des Kurfürstendamms mit einem Neubaubau aus den ca. 1980er.
© Elisabeth Wirth

Susanne Hinneberg erwartet uns am Olivaer Platz. Die elegant gekleidete Frau – schwarz-weiß gepunktete Hose, weiße Bluse, Perlenkette – ist unser Guide und begrüßt uns mit einem Handschlag. Sie kennt die Gegend schon lange. In der Nähe ist sie vor gut 50 Jahren als Jugendliche bei einer Lehrerin untergekommen, als sie vor der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter floh. Ihre erste Erfahrung mit Wohnungslosigkeit. 

Es ist ein warmer Sommertag. Vor uns erstreckt sich eine von Blumenbeeten gesäumte grüne Wiese, alter Baumbestand spendet Schatten. Seit seiner Umgestaltung wird der Platz rege von den Anwohner:innen zum Erholen, Picknicken und Feiern genutzt. Auch einen Spielplatz gibt es. Früher war der Platz zugewachsen, dunkel und voller parkender Autos. „Damit bot er obdachlosen Menschen einen Rückzugsort mitten in der Stadt“, erinnert sich Susanne. „Heute sind diese Menschen hier weitestgehend verschwunden.“

In den nächsten zwei Stunden wird Susanne in ihrer Führung „Die Kunst, zu(m) Überleben“ Informationen zu Wohnungs- und Obdachlosigkeit, defensiver Architektur, Kunst im öffentlichen Raum, Wohnungsnot und zur verfehlten Wohnungspolitik der letzten 40 Jahre mit ihrer eigenen Geschichte verbinden.

Wege in die Wohnungslosigkeit

Im Gegensatz zu obdachlosen Menschen, die auf der Straße leben müssen, kommen Wohnungslose, Menschen ohne eigenen festen Wohnsitz, bei Freund:innen, Verwandten, in Notunterkünften oder immer nur zur Zwischenmiete unter. So wie Susanne. 2020 verlor sie ihre Wohnung. Da war sie etwas über 60. „Ein Jobverlust hatte mich aus der Bahn geworfen“, erzählt sie. Mietschulden häuften sich an. Susanne war überfordert, öffnete ihre Briefe nicht mehr, suchte aus Scham nicht nach Hilfe. Im Februar 2020 stand eines Morgens eine Gerichtsvollzieherin vor ihrer Tür. Sie hatte 15 Minuten, um ihre wichtigsten Dinge zusammenzuklauben. Sie wurde zur sozialen Wohnhilfe Charlottenburg geschickt, wo man ihr einen Platz in einer Unterkunft zuordnete. 

„Susanne hat noch Glück gehabt“, sagt Clemens Poldrack vom Verein querstadtein. „Manche Menschen landen direkt auf der Straße.“ Seit 2013 organisiert der Verein Stadtführungen mit dem Ziel, Menschen eine Stimme zu geben, die in der Gesellschaft wenig gehört werden. Die ersten Touren wurden von ehemaligen Obdachlosen geleitet, später kamen auch Führungen zu Flucht und Migration hinzu. Die Guides sind immer die Betroffenen selbst. Sie führen zu Orten, die ihnen etwas bedeuten und erzählen ihre Geschichte. 

„Hinter jedem wohnungs- oder obdachlosen Menschen steckt eine individuelle Geschichte“, sagt Clemens. „Häufig sind diese Geschichten geprägt von persönlichen Krisen, Schicksalsschlägen, Verlusten und Krankheiten. Überforderung, Hilflosigkeit, Scham führen mitunter dazu, dass Menschen blockieren und es nicht schaffen, einen Ausweg aus der schwierigen Lage zu finden. Oft fehlt auch das Wissen um Hilfsangebote. Dennoch ist Wohnungs- und Obdachlosigkeit ein strukturelles Problem.“ Ein angespannter Wohnungsmarkt, teure Mieten, fehlende Sozialwohnungen, zu knappe Bemessungsgrenzen, benachteiligende Gesetze und nicht zuletzt ein gesellschaftlicher Diskurs über Armut und Bürgergeld-Empfänger:innen, der Menschen stigmatisiert, befördern Wohnungs- und Obdachlosigkeit und erschweren den Weg zurück in die eigenen vier Wände.

© querstadtein e.V.

Wohnungslosigkeit betrifft nicht nur die Ärmsten

Das Problem bleibt gesellschaftlich überraschend unterbelichtet. Dabei sind immer mehr Menschen betroffen. Die Zahlen steigen jährlich. In Deutschland fehlen 800.000 Wohnungen. An Laternenmasten kann man immer wieder Suchanzeigen entdecken. Kündigungen aufgrund von Eigenbedarf sind ein beliebter werdender Weg, um Wohnungen an neue Mieter:innen teurer vermieten zu können. Berichte über Familien, die auf engstem Raum leben, über Frauen, die in toxischen und gewaltvollen Beziehungen ausharren, oder Studierende, die sich von Zwischenmiete zu Zwischenmiete hangeln, häufen sich. Von Wohnungslosigkeit bedroht sind längst nicht mehr nur die Ärmsten in der Gesellschaft. Zum Stichtag 2024 meldeten die Kommunen und Einrichtungen 439.500 untergebrachte wohnungslose Personen in Deutschland an das Statistische Bundesamt. Nicht berücksichtigt werden hier in den Kommunen untergebrachte Geflüchtete. Hinzu kommen jene, die bei Freund:innen oder Verwandten Unterschlupf finden. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. kommt in ihren Hochrechnungen auf rund 550.000 wohnungslose Menschen und ca. 50.000 Menschen, die ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben. 

Mit einem Nationalen Aktionsplan will die Bundesregierung bis 2030 Wohnungs- und Obdachlosigkeit überwinden. Viele Akteur:innen glauben nicht, dass das Ziel erreicht wird. Zumindest solange nicht sehr viel Geld mobilisiert, der Wohnungsmarkt reformiert, bezahlbarer Wohnraum geschaffen, in Prävention investiert wird. An Ideen und Konzepten mangelt es nicht.

Der schwere Weg zurück in die eigenen vier Wände

Schnellen Schrittes führt uns Susanne auf den Kurfürstendamm, macht auf Skulpturen, Installationen und Mosaike entlang der Strecke aufmerksam, vermittelt Einblicke in die Geschichte des Boulevards. In einem der Häuser hat sie in den 1980er gearbeitet. Als Rechtsanwaltsgehilfin war sie viele Jahre in der Immobilienbranche für Anwält:innen, Notar:innen, Wirtschaftsprüfer:innen tätig, die Bauvorhaben begleitet und beglaubigt haben. Sie kennt viele Tricks der Branche und so manche Geschichten hinter so manchem Haus, bei dessen Bau die Investor:innen am Ende mehr durch Steuerbegünstigungen verdienten, als sie investiert haben. Am Adenauerplatz machen wir Halt. Seit vielen Jahren klafft am nördlichen Ende eine Brache, wo einst Wohnungen standen. Das Hotel gegenüber wird gerade entkernt und saniert. Neben einer Statue von Konrad Adenauer gibt Susanne einen Einblick in ihre aktuelle Lebenssituation. Seit vier Jahren lebt sie nun schon in einer Unterkunft, die eigentlich nur als Zwischenlösung für sechs Monate gedacht ist, bis die Betroffenen wieder in eine eigene Wohnung ziehen. Nur findet Susanne keine Wohnung. Das Leben in der Unterkunft beschreibt sie als „täglichen Kampf“. 58 Männer und Frauen, manche mit psychischen Erkrankungen, sind in dem Haus untergebracht. Küche und Duschen müssen sie sich teilen. Die Atmosphäre ist angespannt, das Kochen hat sie aufgegeben. 

Die Kosten für die Unterbringung wohnungsloser Menschen sind hoch. 50 € kostet sie am Tag. Susannes Situation erscheint absurd. Sie erzählt, dass man sie frühzeitig in die Rente gedrängt hat, damit nicht das Jobcenter, sondern ein anderes Amt für sie zuständig ist. Von ihrer kleinen Rente geht ein Teil für die Unterbringung ab. Die Differenz zahlt der Staat. Susanne hätte gerne wieder eine eigene Wohnung. Mit ihrer kleinen Rente kann sie eine Miete jedoch nicht allein bestreiten. Sie wäre auch auf staatliche Unterstützung angewiesen, wenn sie eine Wohnung finden würde. Obwohl diese am Ende wesentlich günstiger wäre, erschweren die aktuellen Bemessungsgrenzen den Weg zurück. Susanne ist kein Einzelfall.

Clemens wünscht sich, dass Politik und Gesellschaft endlich merken, dass sie sich Armut nicht leisten können. Jetzt nicht und auch nicht in Zukunft. 40 % der untergebrachten Personen sind unter 25 Jahren alt. Der Anteil an Haus­halten mit Kindern liegt bei 50,8 %. 

Den Diskurs bereichern: querstadtein und das Engagement der Guides

Die Menschen, die für querstadtein die Touren durchführen und ihre Geschichten teilen, gehören zu denjenigen, die sich wie Susanne stabilisiert oder einen Weg aus der Obdachlosigkeit gefunden haben. Die Führungen geben den Guides nicht nur eine Struktur und eine Aufgabe, sie sind für die meisten auch ein „Boost fürs Selbstbewusstsein. Das Gefühl, gehört und für ein Thema als Expert:in wahrgenommen zu werden, etwas verändern zu können, wirkt bestärkend“, erzählt Clemens. So wie Susanne, die sich auch bei der Union für Obdachlosenrechte Berlin (UfO Berlin) engagiert, bringen sich viele der anderen Guides in Selbstvertretungen ein und versuchen, den Diskurs um die Perspektive der Betroffenen zu bereichern und Bedarfe zu vermitteln. 

So mitreißend die Geschichten auch sind, aus dem Blick darf nicht geraten, dass die Zeit der Wohnungs- und Obdachlosigkeit an den Betroffenen Spuren hinterlässt. Viele kämpfen noch Jahre später mit Krankheiten, kaputten Zähnen und Stigmatisierung. „Aufgrund der gesundheitlichen Folgen der Obdachlosigkeit ist ein 40-Stunden-Job für die Wenigsten möglich“, sagt Clemens. 

Susanne Hinneberg auf einem Podium mit Katja Kipping und Andrej Holm, moderiert von Isette Schuhmacher (ganz links)
© querstadtein e.V.
Das Team von querstadtein e.V. und die Guides.
© querstadtein e.V.

Über 100.000 Menschen sind den Führungen von querstadtein bisher gefolgt. Viele davon waren Schüler:innen, Studierende, angehende Mediziner:innen. „Vor allem Kinder schicken nach den Führungen rührende Nachrichten“, erzählt Clemens, der zur Zeit an der Evaluation arbeitet. Aber auch Erwachsene, Mitarbeiter:innen von NGOs oder Politiker:innen profitieren. Die persönliche Begegnung mit den Betroffenen verändert das Bild von und den Umgang mit Wohnungs- und Obdachlosigkeit. „Die Touren bauen Ängste und Stereotype ab, immer wieder fragen Teilnehmer:innen, wo sie sich engagieren können“, erzählt Clemens.

Die Sonne steht inzwischen tiefer über dem Kurfürstendamm. Wie komplex Wohnungs- und Obdachlosigkeit ist, wie vertrackt und menschlich die Geschichten dahinter sind, ist am Ende der Führung mit Susanne deutlich geworden. Von den vorbei schlendernden Passant:innen würde niemand erahnen, dass die Frau, von der wir uns verabschieden, wohnungslos ist. 

Text: Elisabeth Wirth

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