Großraumbüro: Gemeinschaftlich wohnen, arbeiten und gestalten auf dem Land

Vier junge Menschen wollen raus aufs Land. Sie träumen nicht vom Eigenheim, sondern vom Leben in der Gemeinschaft. Ein Abenteuer auf drei Etagen nimmt seinen Lauf.

© Elisabeth Wirth

Im wahrscheinlich heikelsten Moment des Projektes pflanzte Johannes auf dem alten Schulhof Weinreben. Auf dass sie Wurzeln schlagen würden, wie auch er und seine Mitstreiter:innen Louise, Kim und Timon mit ihrem Projekt Großraumbüro. In einer Zehdenicker Schule von 1908 haben die vier nicht weniger vor, als Wohnen, Arbeiten und Leben zu verbinden. 

Vom Bahnhof sind es 15 Minuten zu Fuß zu dem alten, wilhelminischen Backsteingebäude, das man am Ende der schmalen Hirtenstraße, kurz vor der Biegung, noch nicht erahnt. Über ein Tor an der Nordseite der Schule betritt man das Gelände. Unter einem Ahorn, zwischen Hochbeeten stehen alte Schultische und Stühle. Wenige Meter weiter erstreckt sich ein schmuckloser Bau aus den 1970ern, in dem einst der Hort und die Kantine der Schule untergebracht waren. Nun entsteht hier ein Coworking-Space. Der Boden leuchtet knallig orange, zwischen Baumaterialien, Werkzeugen und Monsteras warten bereits schicke Bürotische und -stühle, ein Sofaensemble aus DDR-Zeiten und zwei Telefonboxen auf die Remote-Arbeiter:innen. Vor wenigen Wochen wurde hier zur Europa- und Kommunalwahl abgestimmt. Zu einer der Vereinbarungen mit der Stadt gehört, die Räume auch in Zukunft als Wahllokal zugänglich zu machen.

Blick in den Coworking-Space vom Großraumbüro in Zehdenick.
© Elisabeth Wirth
Johannes läuft über den Flur der ehemaligen Schule. Bald werden hier Wohnungen die alten Schulräume ersetzen.
© Elisabeth Wirth

„Ein Lebensprojekt“

Im Schulgebäude nebenan riecht es nach Linoleum und Kreide. Im Erdgeschoss hat das Team das alte Wandbild, das Märchenfiguren und Tiere versammelt, für die Besucher:innen um die Historie der Schule ergänzt. Erst 2020 wurde der Schulbetrieb eingestellt. Auf den drei Etagen sollen in den nächsten Jahren 17 in sich geschlossene, barrierefreie Wohnungen für WGs, Familien und Senioren entstehen. Im Keller Werkstätten und eine Gemeinschaftsküche. Bauen im Bestand: Ein Vorgehen, das nicht nur in alten Schulen auf dem Land Schule machen sollte. Die Turnhalle mit ihrem beeindruckenden Dachstuhl aus Holz soll bleiben, wie sie ist. Hier trainieren seit jeher Sportvereine. Das Großraumbüro-Team nutzt sie zudem für Veranstaltungen und verwandelte sie im Frühling 2024 an mehreren Nachmittagen in ein Kino.

Das alte Schulgebäude an einem sonnigen Tag.
© Großraumbüro
Johannes, Louise, Kim und Timon mit den Vereinsmitgliedern, die am Konzept von Großraumbüro mitgewirkt haben. © Großraumbüro
Johannes, Louise, Kim und Timon mit den Vereinsmitgliedern, die am Konzept von Großraumbüro mitgewirkt haben. © Großraumbüro

„Ein Lebensprojekt“ nennt Johannes das Großraumbüro. Von ansässigen Journalist:innen wurden die vier hingegen schon mal Investoren genannt. Ein Begriff, der so gar nicht passen mag, schließlich geht es den Vieren nicht darum, eine Immobilie zu entwickeln, um sie teuer weiterzuverkaufen, sondern, um „einen Ort zum Leben zu schaffen“. Sowie für ein paar Hühner. Mit dem Wunsch, anders, etwas gemeinschaftlicher zu leben und Hühner halten zu können, begann 2019 die Suche nach einem Haus. Online stießen Louise und Johannes auf eine alte Schule in der Lausitz. Sie begannen zu träumen und zaghaft zu planen,  aber noch bevor daraus ein ernsthaftes Konzept werden konnte, war das Gebäude schon verkauft. Wären Kim und Timon nicht inzwischen eingestiegen, würde die Geschichte hier vielleicht enden.

Die Suche ging weiter. Das Gespann besuchte andere Wohnprojekte, verfeinerte sein Konzept, sprach mit einer Bank, gründete einen Verein, um sich bei der nächsten Gelegenheit nicht als Einzelpersonen bewerben zu müssen, und erfuhr im Herbst 2021, dass die Stadt Zehdenick eine alte Schule ausgeschrieben hat und nicht nach den höchsten Bieter:innen, sondern dem besten Nutzungskonzept sucht. Nur wenige Wochen blieben bis zum Abgabetermin. In Windeseile passten die vier ihr Konzept an die Gegebenheiten vor Ort an. Auf die Aufregung folgte Stille, bis die Gruppe ein paar Monate später eingeladen wurde, ihr Vorhaben vor dem Bauausschuss vorzustellen.

Das Projekt kommt ins Rollen…

In zweiter Instanz durfte das Team seine Idee vor der Stadtverordnetenversammlung präsentieren. „Es war ermutigend zu merken, dass wir hier mitgestalten können. Zugleich spürten wir alte Wunden, schlechte Erfahrungen, die in der Vergangenheit bei der Vergabe von Gebäuden gemacht wurden.“ Die Entscheidung für das Großraumbüro fiel einstimmig, die Verwaltung wurde von der Stadt beauftragt, einen Erbpachtvertrag zu verhandeln und die Gruppe schlüpfte mit ihrem Projekt unter das Dach der Mietergenossenschaft Selbstbau, die bereits ein ähnliches Wohnprojekt in einer alten Berliner Schule umgesetzt hatte. 

Als das Team für den Coworking-Space mit angeschlossener Bibliothek der Dinge im Herbst 2022 auch noch beim Wettbewerb „Digitale Orte in Brandenburg: Innovativ. Offen. Regional.“ gewann und gefördert wurde, beschlossen die vier, ihren Lebensmittelpunkt nach Zehdenick zu verlegen und ihr Vorhaben in der Stadt bekannter zu machen. Bei einer ersten Veranstaltung in der Klosterscheune vernetzten sie sich mit über 60 Bewohner:innen. Sie stellten ihre Ideen vor und fragten, welche Wünsche die Zehdenicker:innen haben. Am Ende des Abends klebten auf einem Plakat viele kleine Punkte neben dem Begriff Filmveranstaltungen und auch der ergänzte Wunsch nach Angeboten für Kinder und Jugendliche erhielt viel Zustimmung. Alles schien in trockenen Tüchern, als im Sommer auch ein Entwurf des Erbpachtvertrags fertig wurde, dem alle Parteien zustimmen konnten.

… und gerät unerwartet ins Stocken

Dann der Schock. In Zehdenick kursierte eine Petition, die verhindern sollte, dass Geflüchtete in einer Sporthalle untergebracht werden. Nicht schon wieder sollte wie in der Pandemie der Sportunterricht ausfallen, so der Tenor. Andere Orte seien geeigneter. Zum Beispiel die alte Schule an der Hospitalstraße, die stünde doch leer, hieß es in dem Aufruf. 4000 Unterschriften kamen zusammen. Die Stadt geriet unter Druck, sie wollte die Lage befrieden und beschloss, die Absprachen mit dem Großraumbüro-Team aufzukündigen und das Vertragsverfahren zu stoppen. „Erst waren wir entsetzt, dann haben wir uns geschüttelt und dann beschlossen zu kämpfen“, erzählt Johannes. „Natürlich waren wir uns einig, dass eine gute Lösung für die Geflüchteten gefunden werden muss. Gleichzeitig wollten wir nicht verlieren, wofür wir in den letzten Jahren gearbeitet haben.“

Das Team traf ein paar kluge Entscheidungen. Es nahm Kontakt zu der Frau auf, die die Petition gestartet hatte und erfuhr, dass sie von dem Vorhaben in der ehemaligen Schule bisher noch nichts wusste. Es kooperierte mit der Bürgerinitiative für eine Info- und Austauschveranstaltung, die vom Pfarrer moderiert wurde. Über 200 Menschen kamen auf dem Schulhof zusammen und diskutierten die Lage. Außerdem gingen die vier ins Gespräch mit der Stadt, machten Vorschläge und boten unter anderem eine Zwischennutzung für die Unterbringung der Geflüchteten an. Die starken Nerven, neuen Verbündeten und vielen Gespräche zahlten sich aus. Am Ende fand sich eine andere Immobilie. Im Herbst 2023 wurde der Erbpachtvertrag zwischen der Stadt und der Genossenschaft endlich unterschrieben. Die Zukunft des Großraumbüros ist für die nächsten 99 Jahre in Zehdenick gesichert. 

Neue Herausforderungen, Engagement und das Leben in der Provinz

Im Sommer 2024 hat das Team viele Hürden genommen, neue Herausforderungen liegen vor ihm: Der Bauantrag zur Umnutzung des Nebengebäudes für den Coworking-Space läuft immer noch, die steigenden Baukosten zwingen dazu, das Finanzierungskonzept neu zu denken und nach anderen Förderprogrammen zu suchen. Im Moment sieht alles danach aus, dass die entstehenden Wohnungen nur an Menschen mit Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein vermietet werden. Mal etwas anderes auf einem Wohnungsmarkt, auf dem es Menschen mit geringem Einkommen für gewöhnlich besonders schwer haben. Auch die Suche nach Interessent:innen, die in zwei Jahren die alte Schule bewohnen wollen, hat begonnen. Und nicht zuletzt wird der Umbau des Gebäudes ein Abenteuer. „Wir sind an einem Punkt, an dem wir auch aufpassen müssen, nicht auszubrennen“, sagt Johannes. Um vieles kümmern sich die vier gemeinsam, manche Aufgaben haben sie nach den jeweiligen Fähigkeiten unter sich aufgeteilt. 

Veranstaltungen wie das Familienkino sind zwar geplant, zu viel darf es aber nicht werden. Lieber stellen sie anderen den Raum zur Verfügung und machen Engagement möglich. Die Literatur-AG eines Gymnasiums nutzte die Bühne für eine Aufführung, eine sechste Klasse feierte auf dem Gelände den Abschluss der Grundschulzeit und Jörg, der nach 30 Jahren im Westen in den Osten zurückgekehrt ist, hat eine Bienen-AG gegründet und imkert mit allen, die Lust haben, sich um die zwei Bienenvölker zu kümmern. 

Das Foto zeigt eine Kinoveranstaltung in der alten Turnhalle: Menschen sitzen im Dunklen vor einer großen Leinwand.
© Großraumbüro

Das Leben in der Provinz findet Johannes diverser als gedacht. Nach etwas mehr als einem Jahr in der Kleinstadt sieht er mehr Grautöne, die Perspektive des ehemaligen Berliners hat sich geweitet. 

„Hier auf dem Gelände ist natürlich kein Platz für Rassismus“, sagt er. „Wer auf dem Land aber alle Positionen canceln will, die ihm nicht passen, wie teilweise in Kreuzberg, der ist am falschen Ort.“ Johannes würde weniger Parolen schwingen als früher, sei sich weniger sicher, alles zu wissen. Es sei aber auch besser geworden in der Stadt, über die Manja Präkels in ihrem autobiografischen Roman „Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“, der in den 1990ern spielt, erzählt. Mit manchen würde er eben eher über Fahrradreparaturen reden als über das neueste Kitaintegrationskonzept. „Nachbarschaft ist die Klammer“, sagt Jörg, der sich an den Tisch unter dem Ahorn dazugesetzt hat. 

Im lichten Coworking-Space liegen die ersten Grundrisse für den Umbau bereit und an der Gitterwand am Basketballplatz sind drei der vier Weinreben angewachsen. 

Text: Elisabeth Wirth

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